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Geschichtliches

 

Oma Brickwedel s Erlebnisse bei ihrer Arbeit im Altersheim zwischen 1969 und 1980

(Die Gründerin des Seniorenheimes Ingrid Brickwedel, Frau Ruth Brickwedel, erzählte 2004 diese Geschichten aus den ersten Jahren )

 

Die kleine Landwirtschaft, die keine Familie ernährte, hatten wir 1968 aufgegeben. Mein Mann hatte schon lange eine andere Arbeitsstelle.

Die gekauften Maschinen wurden meist unterm Preis verkauft. So fragte ich mich: „Und was mache ich jetzt?“ „Du gehst arbeiten genau wie ich“, sagte mein Mann. Als wenn ich in der Landwirtschaft nichts getan hätte. Im Gegenteil ich habe immer für zwei gearbeitet, denn er hatte sich ganz auf mich verlassen und mir blieb nichts übrig als auch die Männerarbeit zu verrichten.

Eine Arbeitsstelle hatte ich bald gefunden. Doch meinen Mann sah ich nicht oft zu Hause.

„Was wird aus der neuen Scheune?“ fragte ich.

„Die stecke ich an!“ war seine Antwort.

„Tu das, wenn du das für richtig hältst“ entgegnete ich.

Ich wusste dass er es nicht tut. Nach jeder Schicht kam er später Heim und am Abend sahen wir uns kaum noch.

Eines schönen Tages als ich von der Arbeitsstelle heim kam, hörte ich schon an der Straße, das Klopfen in der Scheune

„Was machst du denn da?“ wollte ich von meinem Mann wissen.

„Ich werde für Ferien auf dem Lande die Scheune ausbauen?“

„Du bist verrückt!“

„Warum? Das ist doch jetzt „in“

Meine Bedenken waren: Drei Monate im Jahr mag so was gefragt sein und die übrige Zeit müssen die Zimmer, vor allem im Winter, gewartet werden. Ich kannte das von meinen Eltern die an der Ostsee auf der Kurischen Nehrung eine Pension betrieben. Geld gab es nur im Sommer.

So was wie eine Fremdenpension schwebte mir vor. Aber ich wusste die würde unsere Karre nicht aus dem Dreck ziehen.

Eine Kollegin erzählte mir dann eines Tages, dass sie mit ihrer Familie im Urlaub fahren wollte. Es haperte an ihrer Mutter, die pflegebedürftig war. Wo könnte man sie 14 Tage unterbringen?

Da schlug der Blitz bei mir ein. Das war eine Marktlücke im Jahre 1969. Wenn die Tochter zur Kur oder ins Krankenhaus musste, suchte sie Platz für die pflegebedürftige Mutter. Wir waren dann nicht nur auf die Sommermonate beschränkt.

Jetzt wusste ich was ich wollte!: Alten Menschen bei mir einen Urlaub zukommen zulassen, damit jüngere Leuten einige sorglose Tage hätten.

Jetzt fing es an, mir Spaß zu machen und der Umbau konnte nicht schnell genug gehen.

Was brauchte ich jetzt an Papieren, um das betreiben zu dürfen? Ich hatte Hauptschule, Haushaltsschule und war Nählehrerin an der Berufschule. Leider fehlten mir einige Zeugnisse, die ungeheuer wichtig waren. Das war vor allem meine Ausbildung als Schwesterhelferin auf der DRK Landesführerschule in Dresden-Radebühl und meine Arbeitszeit im Reservelazarett 3 im Kleinwelke und Bad Elster in der jetzigen DDR. Ich schrieb mir die Finger wund, doch es kam keine Antwort. Es schien dran zu scheitern. Doch irgendwo und irgendwann kommt wieder ein Lichtschein auf uns zu.

Eines Tages hatte der Johanniter Orden einen Aushang im Betrieb „Wer einen Schwesternlehrgang von 4 Wochen in Bad Zwischenahn machen wollte, dazu als Praktikantin 3 Wochen in einem Krankenhaus, möchte sich melden!“ Ich habe mich gemeldet und auf meinen Jahresurlaub verzichtet. Es fiel mir nicht schwer, ich hatte das schon einmal hinter mir. Natürlich wusste es nur die Leiterin. Ich wurde darum von den Jüngeren bestaunt, die meinten: ich hätte wohl Abitur. Zum Schluss als wir unsere Papiere bekamen, wurde es von der Leiterin erwähnt, da ging ein lautes „Oh, darum!“ Durch die Gruppe.

Wieder zu Hause, kam eine kleine Anzeige in die Zeitung, um zu prüfen, ob mein Angebot für Urlaubspflege überhaupt gefragt ist. 6 alte Damen schrieben auf die Anzeige.

Wir waren noch nicht mit dem Umbau der alten Scheune fertig und ich musste sie auf den kommenden Sommer vertrösten.

Es wurde schon Herbst und dann hatten wir endlich die erste alte Dame; im Haus. Frau R. wohnte mit ihrer Schwägerin in einem größeren Ort im Land Wursten in einer gemeinsamen Wohnung. Es gab viel Streit, erzählte sie und sie wollte sich mal richtig erholen. Es waren noch schöne Tage. Sie konnte noch, von mir warm eingepackt die letzten Sommertage im Jahr draußen genießen. Sie war eine ehemalige Lehrerin - im Riesengebirge geboren und aufgewachsen. Der Wald hatte es ihr angetan, der hier vor der Haustür stand. Leider fiel ihr das Gehen schwer, aber im Liegestuhl in warmen Decken eingepackt genoss sie die letzten Sonnenstrahlen des Jahres, die dem Laub einen leuchtenden Goldton verliehen. „Ich gehe nicht mehr zurück“, sagte sie eines Tages zu mir. „Ich bin 80 Jahre alt und möchte meinen Lebensabend mit Blicken auf den Wald verbringen. Viel Zeit habe ich nicht mehr.“

“ Wir werden um disponieren müssen Frau R. will nicht zurück“, sagte ich zu meinem Mann.

„Dann nehmen wir auch andere auf, die bleiben wollen!“ dachte ich. Ob ich das schaffe, wusste ich nicht, denn Frau R. alleine vereinnahmte mich total. „Du kannst es doch versuchen!“ , sagte ich mir dann.

Die Sache war dann beschlossen, wer will kann bleiben oder auch wieder ausziehen.

Einige Tage später zog Frau S. ein. Sie war weder zeitlich noch örtlich orientiert. Nachts geisterte sie durch das Haus und am Tag schlief sie im Sessel. Wir versuchten sie am Tag wach zu halten und in ein paar Tagen schaffte ich es, sie nachts zum Schlafen zu bringen. Leider machte sie ihr kleines Geschäft im Zimmer auf dem Fußboden oder in ihre Schuhe die täglich zum trocknen draußen standen.

Ich sagte zu ihr:

„Nun schau doch mal überall im Zimmer eine Seechen! “

Ihre Antwort: „Dann lass eben den Hund nicht immer rein.“

Wir hatten aber keinen Hund.

Der Nachtstuhl stand am Abend aufgedeckt neben ihrem Bett. Sie ignorierte ihn, darauf versuchte ich es mit einem Nachttopf. Auch das misslang. Also, weiter so, nachts 1 – 2 Mal zur Toilette bringen.

Sie war an Parkinson erkrankt und konnte ihre Hände nicht ruhig halten. Sie brauchte Hilfe beim Waschen, Anziehen und Essen. Bloß ihre Schuhe versuchte sie laufend zu wechseln. „Hallo Frau S. bleiben sie bitte stehen, sie haben ja zwei linke Schuhe an!“ sagte ich einmal.

„Ja denken sie bloß, im Zimmer habe ich noch so ein Paar“, antwortete sie darauf.

Das dritte Zimmer war fertig und Frau L. zog ein. Diabetikerin und fast blind. Schon bei der ersten gemeinsamen Mahlszeit schlug sie mit ihrem Löffel auf die zitternden Hände von Frau S. Diese weinte bitterlich.

Ich nahm sie in den Arm und bat Frau L. es nicht wieder zu tun. Ich erklärte ihr nach dem Essen, dass das Zittern bei Frau S. eine Krankheit ist und sie das nicht ändern kann. Frau L. hat es nie wieder getan.

Jetzt hatte ich drei hilflose Damen zu betreuen. Am Abend saß ich vollkommen ausgelaugt auf mein Bett, dem Heulen nahe. Ich schaffte es nicht! Kochen, Backen, Putzen und die Pflege der drei. „Du schaffst das wir suchen eine Frau damit, das Putzen wegfällt.“ sagte ich mir.

Das Weihnachtsfest rückte immer näher und ich hatte endlich eine Putzhilfe. Herrlich ich hatte jetzt mehr Zeit für die drei alten Damen.

Frau B. die das nächste Zimmer haben sollte, wollte erst nach Weihnachten einziehen. Sie hatte eine Beinprothese. Obwohl sie ihr Bein schon im 1. Weltkrieg bei einem Straßenbahnunfall verloren hatte, konnte sie sich nicht an die Prothese gewöhnen, sie lag immer nutzlos da.

Den Heiligenabend und die Weihnachtstage 1969 haben wir viel zusammen gesessen, Weihnachtslieder gesungen und die Bewohnerinnen haben aus ihrem Leben erzählt. Sie mussten so viel aus ihrer Jugend, Beruf und Elternhaus berichten. Ich strengte mich an, ein guter Zuhörer zu sein.

Ich las die Weihnachtsgeschichte vor und jeder von ihnen konnte noch ein Gedicht, das sie noch in der Schule gelernt hatten. Um 21:00 Uhr lagen sie zufrieden in ihren Betten und ich konnte mich meiner Familie widmen.

Das neue Jahr begann mit viel Arbeit. Im Dorf grassierte die Grippe. In unmittelbarer Nachbarschaft ist an der Grippe ein älteres Ehepaar verstorben. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen hatten wir die Krankheit bald auch im Haus. Frau B., die erst ein paar Tage eingezogen war, hatte sie wahrscheinlich mitgebracht, denn sie musste schon bald das Bett hüten. Gott sei Dank blieben die anderen verschont.

Unser Hausarzt Herr D. aus dem Nachbardorf, kam immer wenn ich ihn brauchte. Ein Landarzt wie er im Buche steht. Zu jeder Zeit zu erreichen, immer freundlich und ausgeglichen auch wenn ich ihn nachts anrief.

Wir waren schon bald acht Leute, das Haus wurde langsam voll und der Arzt verzichtete auf seinen freien Mittwochnachmittag und machte mittwochs die nötigen Hausbesuche. Damit mir die Arbeit nicht zu viel wurde stellte ich ein junges Mädchen ein. Sie war sehr anstellig und nach 3 Monaten schaffte sie es schon, das Mittagessen zu kochen.

Es wurde Frühling. Im März konnten wir schon manchmal draußen sitzen.

Ein bis zwei Tage in der Woche war Badetag.

Die Arbeit häufte sich, die Wäsche die gewaschen und gebügelt werden musste, musste oft warten bis jemand Zeit dazu hatte. Auf der Suche nach Hilfe hatten wir Glück. Wir fanden zwei Frauen, die für zwei Vormittage in der Woche das Putzen und eine die das Bügeln übernahm. Die Waschmaschine konnte ich noch neben einstellen. So war ich erleichtert, dass jetzt alles klappte.

Doch das hielt nicht lange an. Ich entdeckte bei Frau R. beim Waschen einen dicken Knoten in der Brust. Sie kam ins Krankenhaus. Die Brust wurde amputiert. Sie erholte sich nach dem Krankenhausaufenthalt nicht mehr, denn im Jahr vorher hatte man operativ ihre Gallenblase entfernt. Bei schönem Wetter halfen wir ihr nach draußen, was sie sehr freute. Sie schaffte es noch bis September. Es war ein schwüler Tag, Ich hatte sie aufs Bett gelegt. Weil ein Gewitter drohte, wollt auch ich eine Pause einlegen. Kaum hatte ich mich ausgestreckt, hörte ich zwischen Donnergrollen Ihre Klingel. Von Unruhe getrieben lief ich in das Zimmer von Frau R. Schon von der Tür sah ich ihr wachsbleiches Gesicht, und ahnte, dass sie nicht mehr unter den Lebenden weilte. Bin ans Telefon gerannt, der Doktor war schnell da, doch er konnte auch nur noch den Totenschein ausstellen. Elf Monate hatte ich sie gepflegt und der 1 Todesfall bei uns ging mir doch sehr nahe. Ich erinnerte mich, dass sie mir mal sagte, dass ich ihr Kruzifix, das an der Wand hing, auf ihre Brust legen sollte, das tat ich dann auch.

Eine Woche später wurde das Zimmer schon wieder belegt. Die Enkelkinder von Frau T. brachten ihre Großmutter zu uns, weil sie Urlaub machen wollten und sonst niemanden hatten , der sich um sie kümmerte. Nach 14 Tagen sagten sie, würde sie wieder abgeholt werden.

Frau T. sprach kein Wort, obwohl ich mir Mühe gab, sie zum Sprechen zu bringen, schaute sie abwesend durch den Raum. Wir mussten sie am Abend ausziehen und ihr das Essen reichen mit Kommando: „Mund auf, kauen, schlucken, trinken“ Ohne Kommando „schlucken“ behielt sie den Bissen im Mund. Ich war danach vollkommen erledigt und war erleichtert als sie um 21.00 Uhr schlief. In der Nacht würde ich von lautem Rumoren wach und rätselte woher der Krach kam. Schnell was angezogen und dem Krach nach. Aber ich ahnte schon woher es kam. Die Neue konnte es nur sein, die anderen bediente die Klingel. Splitternackt stand sie vom eigenem Kot voll geschmiert in ihrem Zimmer. Der Tisch stand an einem andern Platz und oben drauf ihr Sessel. Das Bett war leer gepackt und lag im Zimmer herum. Gardinen und Rollo waren von der Wand gerissen. Sie hatte versucht das Rollo in Streifen zu reißen, was ihr auch zum Teil gelungen war. Ich wusste nicht wo ich anfangen sollte. In dieser Nacht gab es für mich keinen Schlaf mehr. Der Hausarzt meinte, versuchen wir, sie in die Psychiatrie zum Einstellen mit Tabletten zu schicken. Nach 8 Tagen würde sie entlassen und es war mit Tabletten leichter mit ihr umzugehen. Vier Tage musste sie noch bei uns bleiben. Ihre Wäsche von Krankenhausaufenthalt musste gewaschen werden. Wir packten ihre Taschen aus, auch ihre Handtasche, die sie immer fest umklammert hielt. Es waren keine Schätze drin. Ihren Kot hatte sie zu Klößen geformt, in Klopapier eingewickelt und in der Handtasche mit sich rum getragen.

Geht sie wieder? Ich glaubte nicht dran, aber sie würde nach 15 Tagen abgeholt.

Frau S und Frau L. die mit zu den ersten gehörten, hatten uns nach einem beziehungsweise anderthalben Jahr verlassen. Eine starb im Heim die andere im Krankenhaus.

Die drei Zimmer würden nach kurzer Zeit wieder belegt. Frau O. zog ein! Nach einem Schlaganfall war sie halbseitig gelähmt, hatte nur Hallenturnschuhe an den Füßen, konnte sich gut weiter bewegen, weil sie ihr Bein aus der Hüfte hob. Nur mit dem Sprechen war’s schlecht. Doch mit der Zeit lernten wir, sie zu verstehen. Wenn sie dann manchmal böse war, drohte sie uns und schimpfte nur: „Du Du Du“. Das sie oft raus konnte war ihr sehr wichtig. Manchmal auch bei niedrigen Minustemperaturen. Sie versuchte noch viel selbst zu tun. Zum Beispiel einen Knopf annähen. Die Nadel steckte sie ins Sofa so dass, das Öhr frei blieb und steckte den Faden dann durchs Öhr. Sie brauchte auch noch den Mund dazu, um den Stoff zu halten. Bewundernswert!

Der Doktor verschrieb ihr ein paar orthopädische Schuhe, sie war selig. Sie konnte sie auch bei Wind und Wetter nach draußen gehen, allerdings mussten wir mit ihr einige male zum Anpassen der Schuhe. Sie sang sehr gerne und bekam den Text mancher Lieder recht deutlich raus. Sie hat noch fast 20 Jahre im Heim gelebt und war uns doch sehr ans Herz gewachsen.

Dann zog Frau H. - eine Litauerin - ein. Sie sprach ein schlechtes Deutsch und geriet laufend in ein fremdes Zimmer. Damit sie ihr Zimmer findet, hatte ich ein Bild mit Rosen an ihre Tür geklebt um es ihr leichter zu machen. Sie konnte kaum Lesen und Schreiben. Ihren Namen zu schreiben hatten ihre Brüder ihr beigebracht, denn sie hatte nie eine Schule besucht. Aus ihrem Zimmer drang immer ein penetranter Geruch bis auf den Flur. Endlich kamen wir dahinter was es war. Morgens quetschte sie sich einige Knoblauchzehen, die sie aber nicht gleich aß sondern auf den Tag verteilte. Wir machten ihr klar, dass viel nicht immer gut ist und sie wollte dann den Knoblauch nur noch am Abend nehmen. „Vielleicht können wir morgens ohne Gasmaske rein“, dachte ich. Wir konnten!

Ich stellte fest, dass sie nach ranzigem Fett roch. Und fand auch heraus dass ihr Haar das war.

„Wann haben sie zuletzt gebadet?

„Gestern!“

„Auch den Kopf gewaschen?“

„Nei, Nei, dann kann ich meine Haare nicht glatt kriegen!“

„Was ist das in ihren Haaren?“

„Na gute Butter!“

„Wo haben sie die her?“

„Vom Brot gekratzt und auf den Kopf geschmiert, ist gut für Kopf und Haare!“

Eine Kopfwäsche war trotzdem unabdingbar.

Inzwischen hatten unsere Tochter und unser Sohn geheiratet, die Familie wurde größer und wenn sie für uns mal einsprangen, konnten wir mal ein paar Tage frei machen.

Mein vielen Arbeitsstunden konnte ich nicht zählen. Ich war trotz meiner Arbeit frohen Mutes, und war glücklich wenn alle zufrieden waren.

Schon wieder hatten wir Frühling und die Sonne tat ihr Bestes. An so einem schönen Tag zog Bruno ein. Sein Betreuer brachte ihn her, damit er sich erholte. Er wohnte in einem Männerwohnheim und die Mitinsassen aßen ihm alles weg, außerdem war er Alkoholiker. Er aß bei uns gut und erholte sich bald. Nach 14 Tagen hatte er schon 2 Kg zugenommen. Jeden Abend bekam er noch was auf sein Zimmer, dass die Nacht nicht so lang würde. Damit wir ihn vom Alkohol ablenkte n, kauften wir ein paar Enten und Gänseküken und 2 Kaninchen. Die sollte er versorgen. Er war viel draußen, suchte Grünzeug am Straßenrand und auf Wiesen. Das Kraftfutter kriegte er gebracht und versorgte das Viehzeug gut. Als aus den Küken, ausgewachsene Enten und Gänse wurden, bekamen sie von Bruno Namen. Er hatte sich dafür die Namen von den Heimbewohnern ausgesucht.

„Und wie heißt die Gans?“

„Na, Agatha, just als unsere Agatha. Das ist die, die sich in alles einmischt. “

„Kiek mal die andre Goos da, wat für ne Stolze, genau wie unsere Rosa, so heißt sie auch“.

Ich bekam es mit der Angst zu tun, er könnte es auch den anderen sagen. Ich bat ihn drum, die Namen nicht mehr zu erwähnen. Doch eins musste er noch sagen:

Der große Ganter heißt Fidi“ Fidi, die norddeutsche Abkürzung von Friedrich. Das war der Vorname meines Mannes. Ich musste drüber lachen und fragte ihn: „Welche, Gans oder Ente hat meinen Vornamen? Diese hier Vielleicht oder etwa die Kanninchenfrau? „Die heißt Anna“ sagte er und zog es vor zu schweigen.

Ich musste dran denken, wenn die Tiere Weihnachten in die Bratröhre kommen oder auch schon vorher in die Kühltruhe, ob Bruno das übersteht. Er hat es überstanden und hat noch gut 10 Jahre im Heim gelebt. Im Frühjahr gab es wieder neue Küken und er fuhr jedes Mal mit, um für sich welche auszusuchen. Nur Flugenten wollte er nicht. Die ärgerten ihn, weil sie abends nicht in den Stall gingen, sondern sich auf dem Garagendach zur Nachtruhe begaben.

Frau R. zog ein, sie kam aus dem Krankenhaus. Dort war sie mit einer Rauchvergiftung eingewiesen. Sie hatte brennende Kerzen in ihren Kühlschrank gestellt, um den abzutauen. Ihre Wohnung konnte sie nicht beziehen, weil sie zum größten Teil ausgebrannt war. Sogar ihre Garderobe und Wäsche waren verrußt. Alles was noch gereinigt werden konnte, ließ sie von Neffen und Nichten zu uns raus bringen. Unser Haus roch tagelang nach Brand. Alles musste geputzt und gewaschen werden. Die Bilder mussten von einer dicken Rußschicht befreit werden und was gewaschen werden konnte, kam in die Waschmaschine und hinterher an die Wäscheleine zum Trocknen. Wind und Sonne taten ihr übriges. Nur ihr Fernsehsessel auf dem sie so gerne saß, hatte den Brandgeruch noch immer. Also kam er für ein paar Tage auf den Balkon und war dann wieder annehmbar Die Dame war eine Egoistin. Sie verlangte von Neffen und Nichten jeden Tag sollte sie einer besuchen. Die taten ihr möglichstes. An Sylvester hatte sie Geburtstag und wünschte, dass die Verwandtschaft ihr einen würdigen Geburtstag ausrichtete. Die hatten an Sylvester selbst was vor und wollten an Neujahr. mit ihr feiern. Sie weinte wie ein Kind und war für keinen mehr zu sprechen. Am Morgen lag sie im Bett und war nicht ansprechbar. Ich telefonierte mit der Nichte und den Hausarzt. Der Arzt erkannte, sofort was los war.

„Hat sie Schlaftabletten bekommen?“ war seine erste Frage.

„Ja“

„Hat sie auch gestern Abend welche genommen?“

Aber ich hatte etwa vor fünf Tagen in ihrer Nachttischschublade 10 Tabletten gefunden und rausgeholt. Also hatte sie schon wieder gesammelt.

Da bekam sie von mir nur noch ½ Tablette zur Nacht.

„Ja“ sagte der Arzt „sie wird am späten Nachmittag ausgeschlafen haben“. Und richtig am Abend war sie schon wieder da und ärgerlich, dass es noch Sylvester war. Die Feier fand an Neujahr. statt und die Verwandten konnten beruhigt zum Sylvesterball.

Ein Deutschamerikaner brachte seinen Vater zu uns. Er wollte alle Papiere für ihn besorgen und ihn später nach Amerika nachkommen lassen. Nur kurze Zeit sollte er bleiben. Die Anschrift von seinen Verwandten oder eventuell waren es auch nur Bekannte, ließ er uns da und auch seine Adresse aus Amerika mit den Worten:

„Vater, in vier Wochen bist du bei mir!“

Es war Mai und wir hörten bis September nichts mehr von ihm. Der Vater war verzweifelt und versuchte sich die Pulsadern aufzuschneiden. Was ihm nicht ganz gelang, doch er hatte viel Blut verloren. Der Teppichboden war hin. Da nahm meine Schwiegertochter die Sache in die Hand. Telefonierte mit der Amerikanischen Botschaft, schrieb nach Amerika und ein Wunder geschah, er wurde nach vier Wochen von den Bekannten zum Flugplatz gefahren. Das Flugticket war ab Frankfurt ausgestellt. Jetzt war einer aber froh! Das Geld was wir noch zukriegen hatten, wurde nach Monaten überwiesen, aber ein „Dankeschön“ oder eine Entschuldigung waren nicht dabei.

Inzwischen hatten wir das erste Enkelkind das uns viel Freude machte, es aufwachsen zu sehen. Auch alle Bewohner nahmen Anteil dran. Sie freuten sich mit uns wie es anfing, die ersten Schritte zu machen und auch die ersten deutlichen Worte raus brachte. Es gab viel zu erzählen, was sie für Erlebnisse mit ihren eigenen Kindern und Enkeln hatten. An Gesprächsstoff mangelte es nicht.

Das Sozialamt brachte Paul zu uns in der Hoffnung ihn sesshaft zu machen. Was für einen Nachnamen er hatte ist mir entfallen. Er stellte sich als Piepenpaul vor. Er war ein Wohnungsloser Stadtstreuner. Aus seinem bärtigen Gesicht strahlten uns zwei listige Augen an. Seine Kleidung und auch sein Körper hatten schon lange keine Seife gesehen. Nach einer kurzen Zeit erschien er morgens zum Frühstück ohne Bart. Fast hätten wir ihn nicht erkannt.

Warum?“ fragte ich ihn.

„Mein Bart fiel hier auf und das wollte ich nicht!“ war seine Antwort.

Weil er sich so gut machte, bastelte mein Sohn aus alten Fahrradteilen ein Rad für Paule. So tüchtig freute er sich auf das Rad, dass er jeden Tag damit unterwegs war. Es waren aber nur fünf Tage, da waren Rad und Fahrer weg. Wir warteten bis spät abends auf ihn, er kam nicht. Dann erfuhren wir, dass er wieder durch die Stadt zog. Das Rad hatte er verkauft und hatte seinen Besitz auf einem Rasenmäher gepackt bei sich.

Ein Herr aus der Stadt erzählte uns: „Was ihr glaubt, ihm geht es schlecht, er ist jetzt motorisiert, mit dem Gestell ohne Motor zieht er durch die Stadt und Geld hat er auch!“

Wo er das her hatte stellten wir erst Tage später fest. Das gesamte Leergut an Flaschen hatte er verkauft und das Pfandgeld kassiert. Wir suchten ihn nie wieder.

Frau S. + S waren zwei alte Damen die kurze Zeit, eventuell 4-6 Wochen versorgt werden wollten, sie waren Freundinnen und waren privat bei einer Bekannten untergebracht, die sie liebevoll versorgte. Leider musste die Dame, die sie betreute, ins Krankenhaus, doch danach, sollten sie zu ihr zurück.

Leider lief nicht alles so wie geplant. Die Betreuerin kam nicht wieder. Eine Lungenembolie hatte sie einen Tag vor der Entlassung dahin gerafft.

Erst waren beide ein bisschen ratlos, doch dann beschlossen sie da zu bleiben.

Wir hatte viel Spaß mit den Beiden. Die eine der Damen war Erzieherin in großen Gutshaushallen und auch in Internaten in der Schweiz. Wer sein Lebtag mit Kindern arbeitete, hat auch viel. Lustiges erlebt. Was sie uns mit heiteren Erzählungen wieder gab.

Die andere Dame war mehr in sich gekehrt. An jedem Nachmittag wenn die Sonne schien musste ein Tisch nach draußen und sie spielten Karten. Da ging es hoch her, laut und auch Schimpfworte hagelten. Am Abend musste ich mir das Gejammer anhören. Beide beklagten sich, dass die Partnerin mogelte und der gleiche Satz kam auch von beiden:

Das ist jetzt vorbei, ich spiele nicht mehr mit ihr und spreche nie mehr mit ihr ein Wort und ihrer Gegenwart fasse ich keine Karte mehr an!“

Doch am nächsten Nachmittag begann die gleiche Zeremonie wie am Tag vorher.

Zu meinem 50.Geburtstag hatte die gewesene Erzieherin ein Gedicht gemacht welches ich noch bis heute aufgehoben habe:

Es flötete Seufz, der Spatz, vom Dach:

„Nun freue dich und singe und lach,

denn unser Muttchen lieb und fein

will heute „50“ Jahre sein,

Sie sagt es selbst, sonst glaubt man’s nicht

beguckt nur ihr rund Gesicht,

die frischen Farben, Äuglein klar,

das dichte, wunderbare Haar!

dazu der jugendfrische Elan,

und immerfrisch angetan!

War freundlich wohl stets

voll hilfsbereitem Gemüts

so waltet sie und behaltet sie

von früh bis spät, ermüdet nie.

Mag durch eine gütig Schicksal walten

sie uns noch lang gesund erhalten!

Wir schnitten wohl aus Herzensgründen

die Namen alle in der Rinde n

Ein Hoch für unsere Jubilarin fein ,

wir alle stimmen darin ein!!

Frau N. zog ein . Sie kam aus dem Nachbarsdorf und war eine Königsbergerin. Ihre Schwester war im Krankenhaus und die wollte sie auch nach deren Entlassung zu uns ins Heim haben. Die einzigen Verwandten wohnten in München. Frau N. übernahm sofort die Führung. Sie bestimmte was man am Abend fernsehen sollte und alle fügten sich. Es gab damals nur 3 Programme, also nicht viel Auswahl. Die Frau war schon weit über 80. Ihr Zimmer war oben und sie wollte trotz Treppensteigen, oben bleiben. Immer trug sie ihren Stock bei sich. War sie böse, haute sie damit auf den Fußboden und verschaffte sich Respekt. Außerdem war sei sehr neugierig, ihr entging nichts. Ihre Neugier und Interesse an allem hielten sie gesund. Sie kritisierte was es zu kritisieren gab auch bei Tischnachbarn und bei uns. Man konnte ihr nicht böse sein! Zum Beispiel, rief sie durch den Essraum:

„Fräulein Astrid, sie könnten den Pudding ruhig etwas süßer machen, wir haben keinen Krieg mehr!“

Erst Schweigen im Raum, dann Kopfnicken .

„Wird gemacht!“ war Astrids Antwort.

Ein Zimmer wurde unten frei und die Schwester, Frau G., konnte einziehen. Die Tochter kam aus München angereist. Eine hübsche elegante Dame. Sehr nett und freundlich. Die Mutter sprach von ihrem „Schiepchen“ das zum Besuch kam, „Schiepchen“ nannte man in Ostpreußen ein hilfloses Küken. Darum hatte ich mir ihre Tochter ganz anders vorgestellt. Nach ein paar Tagen fuhr sie zurück. Machte der Mutter noch ein Angebot mit ihr zukommen. Sie lehnte es ab. Später fragte ich mal nach dem Warum?

„Ich möchte endlich zur Ruhe kommen 2 Monate habe ich im letzten Jahr dort gewohnt, diese Unruhe ertrage ich nicht mehr! „ war die Antwort. „Diese ganzen Sorgen, wenn es manchmal auch kleine waren, erlebte ich alle mit und die zerrten an meinem Nerven!“

Nun wollte sie lieber in der Nähe ihrer Schwester sein, die keine anderen Verwandten hatte, Ich hatte sie sofort ins Herz geschlossen und ich konnte ihr nichts vormachen, sie durchschaute mich. Sie nannte mich, wenn wir ihrem Zimmer alleine waren, beim Vornamen. So etwa fragte sie mich am Abend: „Da ist heute doch was gewesen Ruthchen? Bitte setzen Dich und erzähl mal“. Sie wartete geduldig bis ich zu reden anfing. Sie gab mir so manchen guten Rat und ich konnte aus ihrer Lebenserfahrung und auch Weisheit viel lernen. Da konnte ich viele Sorgen loswerden und wenn nach dem „Gute Nacht“ wünschen ich aus ihrem Zimmer kam, war schon alles nicht mehr so trist und trübe.

Sie war die Frau bei der ich oft neue Kraft schöpfte.

Sie lebte noch 4 Jahre im Heim. Dann kam der 22 Dezember. Wir machten immer eine allgemeine Weihnachtsfeier am 22.12. Am Morgen hatte sie einen Schlaganfall und ich holte den Arzt. Sie wollte nicht ins Krankenhaus, weil ein Enkel am 2. Weihnachtstag kommen wollte und sie wollte auch nur nicht das Fest verderben sagte sie, wenn auch schlecht verständlich, konnte aber ihren Wunsch noch äußern. Nur ihren Enkel hat sie nicht mehr erlebt. Am 25. Dezember kam der 2. Anfall morgens beim Betten machen. Schnell holten wir ihre Schwester von oben. Ich hielt sie in den Armen als sie starb.

Wie ihre Wohnung ausgeräumt wurde, brachte mir der Enkel einen Umschlag der an mich adressiert war, mit einem Gedichtbuch und ein paar Abschiedsworten, dass ich meine Tränen nicht zurückhalten konnte.